Pandemie und Kriege haben die Verletzlichkeit globaler Lieferketten offengelegt. Prof. Dr. Martin Gornig vom DIW im Gespräch mit BVT über die Globalisierung und potenzielle Produktionslösungen.
Herr Gornig, die Neuausrichtung globaler Lieferketten wird intensiv diskutiert. Wie bewerten Sie aus wissenschaftlicher Sicht die These einer De-Globalisierung?
Die Welt hat sich gegenüber vor 20 Jahren deutlich verändert, als wir noch von einer unaufhaltsamen Globalisierung ausgingen. Die empirische Erfassung ist komplex, da neben Markt-Transaktionen auch viele interne Unternehmensberechnungen eine Rolle spielen. Ein wichtiger Indikator deutet aber zumindest auf einen „Stopp“ der Globalisierung hin: Der Welthandel wuchs früher deutlich schneller als das Welt-Bruttoinlandsprodukt – dieser Unterschied ist inzwischen stark zurückgegangen. Allerdings ist in den reinen Zahlen keine De-Globalisierung erkennbar. Die ursprünglichen Gründe für die Globalisierung bestehen weiter: Größere Mengen lassen sich kostengünstiger produzieren. Bei Einkaufsentscheidungen orientieren sich Unternehmen primär am besten Preis-Leistungs-Verhältnis. Zwar diskutieren wir intensiv über die Risiken durch Pandemie und geopolitische Veränderungen, aber im Tagesgeschäft dominieren nach wie vor die konkreten Preise.
Die Debatte um Reshoring wird oft zwischen den Extremen geführt – komplette Rückverlagerung oder Beibehaltung globaler Strukturen. Welche Lösungen gibt es?
Beide Extreme haben ihre Vor- und Nachteile. Eigenproduktion bedeutet volle Kontrolle und weniger Unsicherheit, aber auch höhere Kosten durch kleinere Produktionseinheiten. Die Lösung liegt wahrscheinlich in der Mitte und hängt stark von der jeweiligen Branche ab. Eine Pauschalempfehlung dafür oder dagegen lässt sich nicht geben. Ein vielversprechender Ansatz ist das Nearshoring – quasi ein Zwischenweg zwischen Risikoreduzierung und internationaler Arbeitsteilung. Für Deutschland bedeutet das vor allem eine europäische Perspektive. Die unterschiedlichen Produktionsbedingungen innerhalb Europas, etwa zwischen Rumänien, Portugal und Schweden, bieten durchaus Potenzial für Kostenoptimierung bei gleichzeitiger Risikominimierung.
Wie schätzen Sie den Trend zum Reshoring in den USA ein, besonders im Hinblick auf die dortige Wirtschaftspolitik?
Der aktuelle Trend basiert nicht nur auf geopolitischen Spannungen. Die Pandemie hat zu einer grundlegenden Neubewertung von Risiken geführt. Auch andere Faktoren, wie etwa die Situation am Suezkanal, spielen eine Rolle. Es gibt keine Garantie, dass sich solche globalen Störungen nicht wiederholen. Diese Sensibilisierung geht über politische Faktoren hinaus. Trotzt aktueller Spannungen z.B. mit Mexiko stellt auch in den USA Nearshoring eine wichtige Alternative dar. Je näher die Produktion am Heimatmarkt liegt, desto geringer sind die Risiken – ein Trend, den wir mittelfristig weiter beobachten werden.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit bei kürzeren Lieferketten?
Der Nachhaltigkeitsaspekt wird durch steigende CO₂-Bepreisung zunehmend relevanter. Kürzere Transportwege bedeuten geringere Emissionen und Kosten. Zusätzlich spielt die Geschwindigkeit eine wichtige Rolle: Bei schnelllebigen Trends kann ein dreimonatiger Transportweg aus Asien bedeuten, dass das Produkt bei Ankunft nicht mehr gefragt ist. Die Akzeptanz für nachhaltige Produktion hängt allerdings stark von der wirtschaftlichen Situation ab. Je besser die ökonomische Lage, desto größer ist die Bereitschaft, für Umweltschutz mehr zu zahlen.
Deutschland ist als Exportnation besonders stark in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden. Welche strukturellen Veränderungen sind notwendig?
Eine stärkere europäische Integration der Produktion wäre für Deutschland die wünschenswerte Strategie. Europa bietet trotz aktueller Herausforderungen die Chance, durch seine unterschiedlichen Produktionsbedingungen viele Vorteile der Globalisierung innerhalb der eigenen Grenzen aufzufangen. Die notwendigen Investitionen in neue Produktionsstätten würden auch der deutschen Wirtschaft zugutekommen. Deutschland exportiert bereits jetzt den größten Teil seiner Güter nach Europa – dieser Anteil wird vermutlich noch zunehmen.
Welche Faktoren sollten bei der Bewertung von Reshoring-Strategien neben den Produktionskosten berücksichtigt werden?
Ein zentraler Faktor sind die Versicherungskosten, die bei Lieferausfällen entstehen. Je näher am Produktionsort, desto geringer das Risiko von Störungen in der Lieferkette. Auch die Anpassungsfähigkeit spielt eine wichtige Rolle – lange Transportwege erschweren die Reaktion auf veränderte Nachfrage. Ein weiterer, zuletzt wieder relevanter gewordener Aspekt ist die Eigentumssicherheit von Auslandsanlagen. Die Situation deutscher Unternehmen in Russland zeigt, wie schnell der Zugriff auf Produktionsanlagen verloren gehen kann.
Welche Rolle werden digitale Technologien zukünftig in der Produktion spielen?
Mittelfristig sehen wir hier großes Potenzial, besonders durch additive Fertigung wie 3D-Druck. Wenn sich in kleinen Serien genauso effizient produzieren lässt wie in großen, verliert die zentralisierte, globale Produktion an Bedeutung. Künstliche Intelligenz könnte diese Entwicklung noch verstärken. Zwar erfordert KI anfangs hohe Investitionen, aber die schnelle Informationsverarbeitung könnte die effiziente Produktion kleiner Stückzahlen ermöglichen. Wir bewegen uns möglicherweise in Richtung personalisierter Produktion. Wenn die Produktionsanlagen so flexibel werden, dass personalisierte Fertigung ohne große Mehrkosten möglich ist, schwindet der Vorteil zentralisierter, globaler Produktion weiter. Die aktuellen Milliardeninvestitionen in KI könnten diese Entwicklung noch beschleunigen.
Prof. Dr. Martin Gornig ist Forschungsdirektor Industriepolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und lehrt Stadt- und Regionalökonomie an der Technischen Universität Berlin. Er ist seit mehr als 30 Jahren in der Forschung und wissenschaftlichen Politikberatung tätig. Themenschwerpunkte sind Analysen internationaler Produktivitätsunterschiede und Bewertungen industriepolitischer Konzepte.